BÜRGERSCHAFT
DER FREIEN UND HANSESTADT HAMBURG
Drucksache 22/16857
22. Wahlperiode 13.11.24
Antrag
der Abgeordneten Kazim Abaci, Dr. Isabella Vértes-Schütter,
Sören Schumacher, Güngör Yilmaz, Iftikhar Malik, Danial Ilkhanipour,
Kirsten Martens, Baris Önes, Dr. Sven Tode,
Ekkehard Wysocki (SPD) und Fraktion
und
Sina Imhof, Miriam Block, Eva Botzenhart, Alske Freter, Jennifer Jasberg,
Lisa Kern, Sina Aylin Koriath, Sonja Lattwesen, Lisa Maria Otte,
Lena Zagst (GRÜNE) und Fraktion
Betr.: Vergabe des Auftrags zu einer wissenschaftlichen Studie: Aufarbeitung
des NSU-Komplexes im Rahmen einer wissenschaftlichen Studie
Mit der Drucksache 22/11561 hat die Hamburgische Bürgerschaft am 13. April 2023 mehrheitlich mit den Stimmen der Fraktionen von SPD, Grünen, CDU und LINKEN gegen die Stimmen der AfD-Fraktion beschlossen, dass zur Aufarbeitung der Geschehnisse und Ermittlungen rund um den NSU-Mord an Süleyman Taşköprü in Hamburg eine wissenschaftliche, möglichst interdisziplinäre Aufarbeitung vorgenommen wird. Dazu sollen alle vorhandenen Akten, Dokumente, Datenbestände und anderer Erkenntnisquellen ausgewertet, wissenschaftlich aufgearbeitet und beteiligte Personen befragt werden.
Gleichermaßen mehrheitlich gegen die Stimmen der AfD-Fraktion war der Senat ersucht worden, darzustellen, welche Akten, Dokumente und Datenbestände im Zusammenhang mit dem sogenannten NSU-Komplex in Hamburg vorhanden sind sowie sicherzustellen, dass der den Themenkomplex betreffende vorhandene Aktenbestand dauerhaft vollständig erhalten bleibt. Zudem sollen sämtliche vorhandenen Unterlagen des Landesamtes für Verfassungsschutz aus dem Zeitraum 1992 bis 2011, die potenziell einen Zusammenhang mit dem NSU-Komplex aufweisen könnten, sowie alle Unterlagen, die sich auf die Ermittlungen im Mordfall Süleyman Taşköprü beziehen, in dem Umfang, in dem Hamburger Ermittlungsbehörden darüber verfügen können, zum Zwecke einer wissenschaftlichen Aufarbeitung zugänglich gemacht werden.
Um die Vergabe der wissenschaftlichen Aufarbeitung, wurde die Präsidentin der Bürgerschaft ersucht – im Benehmen mit dem Ältestenrat, dem sie regelmäßig berichten soll. Zur Begleitung des Projektes sollte zudem ein „Beirat wissenschaftliche Aufarbeitung des NSU-Komplexes“ eingerichtet werden.
Während der Senat in die Vorbereitung der Umsetzung des Ersuchens eintrat, welches gesondert beantwortet werden soll, wurde aufseiten der Präsidentin der Bürgerschaft vorbereitend eine Klärung der für eine Erreichung des gewünschten Ergebnisses und ordnungsgemäße Vergabe erforderlichen Schritte vorgenommen. Am 25. September 2023 konstituierte sich der Beirat, nachdem Mitglieder der Bürgerschaft aus den Fraktionen der SPD, Grünen, CDU und Linken bestimmt worden waren. Er ist insgesamt vier Mal zu vorbereitenden Beratungen zusammengekommen und hat das darauffolgende Vergabeverfahren begleitet.
Mit dem Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) erörterte der Beirat, wann welche relevanten Akten des überaus komplexen Bestandes in sinnvoller Weise unter welchen Voraussetzungen den Forschenden zur Verfügung gestellt werden können. Aufgrund der kooperativen und vorausschauenden Herangehensweise des LfV ist davon auszugehen, dass zum Zeitpunkt der erfolgten Vergabe sowie dem erfolgreichen Abschluss der erforderlichen Sicherheitsüberprüfungen der Wissenschaftler:innen die Vorbereitung der Akten abgeschlossen sein wird und mit der Einsichtnahme und Aufarbeitung begonnen werden kann.
Angesichts der Größe und Besonderheit des Vorhabens verschaffte sich der Beirat im Hinblick auf die Beauftragung des Projektes sodann im Wege einer Markterkundung einen Überblick zwecks Vorbereitung eines Teilnahmewettbewerbs in materieller und formeller Hinsicht. Dies diente der Konkretisierung der Leistungsanforderungen und Auftragsgestaltung. In der Beiratssitzung im April 2024 gaben Vertreter:innen des Hamburger Institutes für Sozialforschung sowie der Forschungsstelle für Zeitgeschichte Hamburg dem Beirat eine Einschätzung hinsichtlich der erforderlichen Dauer, des Umfangs und auch des Erwartungshorizontes von Forschenden sowie die erforderlichen Kriterien für eine Leistungsbeschreibung und des zu erwartenden Kostenrahmens.
Auf Grundlage dieser Erkenntnisse wurde sodann zur Vergabe des Auftrags an geeignete wissenschaftliche Institute unter Beratung durch die Finanzbehörde der Weg eines Teilnahmewettbewerbs mit Angebotsphase als zweckmäßig erachtet. Vergaberechtlich wird das Verfahren durch die Kanzlei HEUKING durchgeführt, die als Vergabestelle für die Einhaltung aller rechtlichen Voraussetzungen und ein wettbewerbsneutrales und transparentes Verfahren verantwortlich ist.
Der Beirat stimmte darin überein, dass sich das Verfahren in Bekanntmachung, Teilnahmewettbewerb, Angebotsphase, Bewertung und einer Wartefrist bis zum Zuschlag gliedern solle. Die Unterteilung in Teilnahmewettbewerb und Angebotsphase wurde als sinnvoll erachtet, weil aufgrund der Prüfung von Eignungen und Referenzen bereits im Teilnahmewettbewerb gegebenenfalls eine Eingrenzung der Anzahl von Interessent:innen erreicht werden kann. In der Angebotsphase sollten Leistungsbeschreibung und Vertragsentwurf den Bietenden zur Konzeptentwicklung und Preisbestimmung an die Hand gegeben werden, sodass entsprechende Angebot abgegeben werden konnten.
Wegen des großen und komplexen Dokumentenbestandes und des erheblichen Aufwandes aufgrund der Restriktionen, denen die Unterlagen in der Zugänglichkeit unterworfen sind, ist der Beirat für die Beauftragung der wissenschaftlichen Aufarbeitung von einem Zeitraum von rund drei Jahren ab Vergabe ausgegangen. Regelmäßige Zwischenberichte sollen Gegenstand des Vertrages werden. Angenommen wurde ein Kostenrahmen für die Beauftragung von rund 900.000 Euro brutto.
In der Folge wurde die Auftragsbekanntmachung für das Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb entsprechend dem europarechtlich vorgegebenen Veröffentlichungsformular entworfen und dem Beirat sowie dem Ältestenrat zur Verfügung gestellt und einzelne Rückfragen geklärt. Die Veröffentlichung der Bekanntgabe des Verhandlungsverfahrens mit vorherigem Teilnahmewettbewerb erfolgte nach kleineren Anpassungen in endgültiger Form auf der EU-Plattform.
Die Frist des Teilnahmewettbewerbs lief 30 Tage plus einer Verlängerungswoche bis zum 29.07.2024.
Bis zum Ablauf der Frist waren drei Teilnahmeanträge eingegangen. Nach Prüfung der Eignung waren alle drei zuzulassen, sodass in die Angebotsphase eingetreten werden konnte. Zur Angebotsabgabe aufgefordert wurden am 19.08.2024:
– Ruhr-Universität Bochum (unter Beteiligung der Universität Konstanz, Universität Bielefeld und der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin)
– Forschungsstelle für Zeitgeschichte/Hamburger Institut für Sozialforschung
– IU Internationale Hochschule GmbH
Die Frist zur Einreichung der Angebote lief 46 Tage bis zum 04.10.2024.
Am 09. und 10. Oktober fanden die Angebotspräsentationen und Verhandlungsgespräche der Angebote im Rathaus statt. Die Funktion der Wertungsjury übernahmen seitens der Fraktionen die Abgeordneten Anke Frieling, Sina Imhof, Dr. Isabella Vértes-Schütter, Deniz Çelik, Kazim Abaci, Iftikhar Malik, Güngör Yilmaz sowie seitens der Bürgerschaftskanzlei Präsidentin Carola Veit, Direktor Johannes Düwel sowie Referentin Anja Wetzlaugk. In jeweils rund eineinhalb Stunden präsentierten die Bieter:innen ihre Angebote und Vorstellungen zur Umsetzung der wissenschaftlichen Aufarbeitung sowie das wissenschaftliche Team und es wurden beiderseitige Fragen geklärt. Im Anschluss erhielten die Bieter:innen am 11.10.2024 die Gelegenheit zur Abgabe überarbeiteter Angebote bis spätestens zum 16.10.2024.
Am 17.10.2024 erfolgte der abschließende Meinungsaustausch der Jury über die eingegangenen finalen Angebote. Die Bewertung der Qualität erfolgte auf der Basis der Umsetzungsskizzen, in denen die Bieter:innen zu beschreiben hatten, wie sie den Auftrag umsetzen würden. Dabei kam es im Wesentlichen auf die interdisziplinäre Vorgehensweise an sowie auf die Darstellung und Begründung der wissenschaftlichen Methoden der Bieter:innen. Nach einstimmiger Entscheidung der Jury ist das Angebot der Ruhr-Universität Bochum als bestes Angebot für den Zuschlag vorzusehen. Dessen Netto-Pauschalpreis beläuft sich auf 756.000 Euro.
Gemäß Drucksache 22/11561 ist über alle noch nicht bestimmten Kosten (Personal und Sachmittel) der wissenschaftlichen Aufarbeitung, die vom Senat der Freien und Hansestadt Hamburg zu tragen sind, gesondert zu beschließen. Insbesondere für den Vertragsschluss ist die Bereitstellung erforderlich. Zu berücksichtigen sind insofern:
900.000 Euro für die Beauftragung der wissenschaftlichen Aufarbeitung (Pauschalhonorar). Der Abfluss der Mittel wird voraussichtlich in Anteilen von je 20 Prozent der Gesamtsumme nach Erteilung des Zuschlags sowie nach 6, 12 und 18 Monaten und nach Fertigstellung.
Zur Begleitung des Projektes geht die Bürgerschaftskanzlei von Nebenkosten in Höhe von 15 Prozent des Auftragswertes aus, die beispielsweise für die rechtliche Beratung und die Veröffentlichung in geeigneter Form (z. B. Ausstellung, Fachtag) sowie die weitere Begleitung bereits angefallen sind oder weiter anfallen. Zudem sind aufgrund der langen Laufzeit dieses besonderen Projektes weitere 15 Prozent für Unvorhergesehenes in Ansatz zu bringen, die gegebenenfalls nicht in Anspruch genommen werden müssen.
Die Begleitung der Arbeiten, Koordinierung mit dem LfV, Einbindung des Beirates im weiteren Verlauf sowie Außenkommunikation liegen bei der Bürgerschaftskanzlei. Diese Aufgabe hat sich bereits bisher als ressourcenintensiv erwiesen und wird voraussichtlich kontinuierlich bestehen. Es sind Tätigkeiten unterschiedlicher Wertigkeiten begleitend zu leisten, das Verständnis der Forschung und deren Kommunikation dabei unabdingbar. Zudem muss die Bereitschaft für eine Sicherheitsüberprüfung vorausgesetzt werden. Die Projektlaufzeit wird über die reine Forschungsarbeit hinausgehen. Eine halbe Tarifstelle EG 12 für die Assistenz im Sinne einer Gremienbetreuung sowie eine Stelle der Wertigkeit A 14 für die Begleitung und Vernetzung der wissenschaftlichen Arbeit sollen hierfür eingerichtet werden.
Zudem bindet das Projekt personelle Ressourcen und Sachmittel beim Landesamt für Verfassungsschutz. Das Aktenmaterial ist so aus dem Gesamtaktenbestand zu extrahieren und aufzubereiten, dass eine rechtskonforme Vorlage in digitaler Form möglich ist. Ferner ist einzuplanen, dass die Forschenden Ansprechpartner:innen im LfV benötigen, die für fachliche, methodische und verwaltungstechnische Nachfragen zur Verfügung stehen. Diese Aufgaben können derzeit aus dem Bestand gewährleistet werden. Gleiches gilt für die arbeitstechnischen Ressourcen einschließlich der Bereitstellung von Büroräumen innerhalb des LfV.
Sollte über die Bereitstellung der Akten des LfV Hamburg hinaus auch die Freigabe hier vorliegenden Aktenmaterials auswärtiger Behörden erfolgen müssen, besteht zusätzlich die Notwendigkeit, für die anfallenden Tätigkeiten (Identifizierung von Freigabebedarf für jedes einzelne Aktenstück, Übermittlung von Freigabeersuchen an externe Behörden, Überwachung der Rückläufe, Auswertung/Umsetzung der Freigaben/Schwärzungsanweisungen/Verweigerungen) eine Sonderorganisation zu schaffen. Hierfür wären zusätzlich zum o. a. Bedarf eine Stelle A12 und zwei Stellen A11 einzurichten.
Die Bürgerschaft möge beschließen:
Der Senat wird ersucht,
1. Sachmittel im Wege der Sollübertragung für die Haushaltsjahre 2025 und 2026 in den Einzelplan 1.01., Produktgruppe 200.03„Bürgerschaftskanzlei“, in den Kontenbereich „Kosten aus laufender Verwaltungstätigkeit“ in Höhe von bis zu jeweils 600.000 Euro aus dem Einzelplan 9.2, Produktgruppe 283.01 „Zentrale Ansätze I“ zu übertragen,
2. Personalmittel im Wege einer Sollübertragung für
a. eine 1,0 Stelle A 14 für 2025 und 2026,
b. eine 0,5 Stelle E 12 für 2025 und 2026
in Höhe von 181.000 Euro für das Haushaltsjahr 2025 sowie 184.000 Euro für das Haushaltsjahr 2026 in den Einzelplan 1.01., Produktgruppe 200.03 „Bürgerschaftskanzlei“, in den Kontenbereich „Personalkosten“ aus dem Einzelplan 9.2, Produktgruppe 283.01 „Zentrale Ansätze I“ zu übertragen,
3. den Stellenplan des Einzelplans 1.01 – Bürgerschaft –, Aufgabenbereich 200, um folgende Stellenveränderungen ab 2025 zu ergänzen:
a. eine 1,0 Planstelle Oberregierungsrätin/Oberregierungsrat A 14
b. eine 0,5 Stelle E12
beide Stellen sind mit dem Vermerk: kw zum 31.12.2027 (Abschluss der wiss. Aufarbeitung des NSU-Komplexes),
4. im Fall der erforderlichen Freigabe und Bearbeitung von Aktenmaterial auswärtiger Behörden
a. eine Stelle Amtsrätin/Amtsrat A 12 sowie zwei Stellen Regierungsamtfrau/Regierungsamtmann A 11 im Jahr 2025 nach Art. 9 Nr. 10 Haushaltsbeschluss 2025/2026 oder einer vergleichbaren Regelung des Haushaltsbeschlusses temporär mit einem kw-Vermerk nach Beendigung der zusätzlichen Aufgabenwahrnehmung im Landesamt für Verfassungsschutz einzurichten,
b. die hierfür erforderlichen Personalkosten von bis zu 323.000 Euro in 2025 und von bis zu 329.000 Euro in 2026 aus dem Einzelplan 9.2, Produktgruppe 283.01, „Zentrale Ansätze I“ in den Einzelplan 8.1, Produktgruppe 273.01 „Verfassungsschutz“, Kontenbereich „Personalkosten“ zu übertragen und ggf. darüber hinaus in der Aufstellung für das Haushaltsplan-Verfahren 2027/2028 zu berücksichtigen,
c. die hierfür erforderlichen Sachkosten in Höhe der Büroarbeitsplatzpauschale von jeweils bis zu 28.000 Euro in 2025 und 2026 aus dem Einzelplan 9.2, Produktgruppe 283.01, „Zentrale Ansätze I“ in den Einzelplan 8.1, Produktgruppe 273.01 „Verfassungsschutz“, Kontenbereich „Kosten aus laufender Verwaltungstätigkeit“ zu übertragen und ggf. darüber hinaus in der Aufstellung für das Haushaltsplan-Verfahren 2027/2028 zu berücksichtigen.